Kolumne von Lorenz Schilt

Der Kieselstein

Mittwoch, 29. Mai 2024

1) Willi Hoffsümmer, Kurzgeschichten 1) Willi Hoffsümmer, Kurzgeschichten

Auf der nah gelegenen Uferwiese am Vierwaldstättersee liegt ein mittelgrosser Kieselstein.

Schon wieder durchfährt es mich.

Es ist nämlich nicht zum ersten Mal; so etwas habe ich in letzter Zeit öfters gesehen.

Und ich schubse den Stein mit inzwischen eingeübter Manier über den Uferrand ins seichte Gewässer.

Dort gehört er hin.

 

Der Stein aber hat etwas Gutes. Er erinnert mich an eine Kurzgeschichte1).

«Ein Inder sass eines Tages am Ufer eines Gebirgsbaches im Himalaya. Er schaute auf die Wellen, freute sich über das klare Wasser und zog schliesslich einen Kieselstein aus dem Flussbett. Einen schönen, runden, harten Stein. Er zerschlug ihn und stellte fest, dass er innen ganz trocken war. Der Stein hatte doch Jahrhunderte, Jahrtausende im Wasser gelegen, doch es war nichts ins Innere vorgedrungen.

Und er begann zu meditieren: Ist es nicht ebenso mit uns Menschen? Umflutet von den Segnungen der Religionen, doch wie hart sind die Menschen geblieben! Die Schuld liegt offenbar nicht an den

Religionsstiftern oder ihren Lehren, sondern an denen, deren Herzen verhärtet sind!»

Wie schnell sind Herzen verhärtet, mitten im Alltag geschieht's. Auch meines blieb wohl nicht verschont. Nachdem ich nämlich weiss, wer diese Steine hingelegt hat, ist mir viel wohler ums Herz. Eine Nachbarin lüftete das Geheimnis. Es ist Raja, eine Mischlingshündin eines in der Nähe wohnendes Paares. Die Hündin spielt mit den Steinen und ist glücklich.

Wer empathisch durch das Leben geht, sieht mehr. Wer mit dem Herzen sieht, entdeckt auf einmal ganz andere Zusammenhänge. Er sieht im Kieselstein zwar den harten wasserundurchdringlichen Gegenstand, merkt aber, dass dieser Stein manchmal seinem Herz gleicht.

Der Betende in Psalm 51, 12 hat dies wohl erkannt, denn er bittet um ein reines Herz: «Schaffe in mir,

Gott, ein reines Herz, und gibt mir einen neuen, beständigen Geist» Psalm 51,12

Viel Vergnügen, wenn Sie sich auf eine Meditationsreise begeben. Vielleicht werden Sie das nächste Mal einen Kieselstein antreffen.

Herzlich grüsst Lorenz Schilt