Kirchensplitter
Vom Sündenfall zum Schamfall
ALTES TESTAMENT
Raffaella Felder
Welche Überschrift kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die Kapitel Genesis 2 und 3 denken? Höchstwahrscheinlich «Sündenfallgeschichte». Diese Überschrift wurde so bekannt, dass man behaupten kann, sie sei in unser kulturelles Erbe eingeflossen. In unserer Gesellschaft hat sie ihre ganze Wirkung entfaltet – leider nicht nur zum Guten! Neben allen zwischenmenschlichen und seelsorgerischen Schäden, die die Lehre vom Sündenfall mit sich brachte, hat dieser Titel zu Genesis 2 und 3 noch einen weiteren Nachteil: Er leitet die Leserschaft fehl und versperrt so den Zugang zum eigentlichen Text. Denn in der uns bekannten Sündenfallgeschichte kommt das hebräische Wort „Sünde“ nirgends vor. Auch die Reaktionen von Adam und Eva zeugen mehr von einem Gefühl der Scham als von Schuld. So heißt es in Genesis 3,7: «Da gingen den beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Und sie flochten Feigenblätter und machten sich Schurze.»
Alle diese scharfsinnigen Gedanken stammen nicht von mir, sondern von meiner Professorin Dr. Magdalene L. Frettlöh. Sie hat mir diese im Rahmen eines Seminars mit auf den Weg gegeben. Die inspirierende Kraft dieser Entdeckung wirkte jedoch in mir über das Seminar hinaus, und ich stellte mir viele Fragen, wie zum Beispiel: Was heißt das für das Wesen des Menschen? Wie tief prägt uns die Scham? Wie konstitutiv ist sie für unser Dasein und Menschsein? Welche theologischen Konsequenzen hätte es, den Sündenfall durch den Schamfall zu ersetzen? Wie wäre der Tod Jesu am Kreuz zu deuten?
Besonders die ersten drei Fragen treiben mich bis heute an. Ich sagte mir: «Wenn die Scham wirklich so grundlegend für das menschliche Dasein ist, wie uns die neue Deutung der Geschichte als Schamfall weismachen möchte, dann ist sie von prägender Bedeutung für das Leben. Vermutlich prägender, als wir ahnen…»
Was denken Sie?